Wie Wasserverschmutzung, extreme Wetterereignisse und steigende Temperaturen über viele Jahrzehnte hinweg das Ökosystem eines Süßwassersees verändern und unwiederbringlich schädigen können, zeigt ein KI-Modell eines Teams aus Wissenschaftler:innen der Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Birmingham. Das Modell, das Wetter- und Klimadaten sowie Daten aus einem Sedimentbohrkern des Sees nutzt, könnte künftig für Vorhersagen genutzt werden, wie Ökosysteme auf komplexe Umweltveränderungen reagieren. Es könnte daher als „Zeitmaschine für die biologische Vielfalt“ dienen, die sowohl Prozesse in der Vergangenheit erklärt wie auch auf künftige ökologische Gefahren hinweist.
FRANKFURT. Die Sedimente von Seen und Flüssen sind
das Langzeitgedächtnis der Gewässer: Schicht für Schicht werden hier über lange
Zeiträume mineralische, organische und chemische Partikel und Stoffe
abgelagert. In einem Sedimentbohrkern des „Ring Lake“ bei Braedstrup in
Dänemark analysierte das deutsch-britische Wissenschaftsteam unter Federführung
von Niamh Eastwood und Prof. Luisa Orsini
sowohl die DNA-Reste von Pflanzen, Tieren und Bakterien wie auch
Umweltgifte wie etwa Pestizide oder Herbizide, die im Laufe der Zeit in den See
gelangten und sich in den Sedimenten ablagerten. So konnte das
Wissenschaftsteam die Veränderungen der ökologischen Lebensgemeinschaft im See
einerseits und die Verschmutzung etwa durch Nitrate und Biozide im Laufe der
vergangenen 100 Jahre rekonstruieren.
„Der von uns untersuchte ‚Ring Lake' in Dänemark ist ein Gewässer,
das zu Beginn des 20. Jahrhundert kaum belastet war. Im Laufe des Jahrhunderts
war der See dann erheblichen Umweltbelastungen ausgesetzt, während sich in den
letzten Jahren des 20. Jahrhundert die Wasserqualität deutlich verbessert hat“,
erklärt Prof. Henner Hollert, Umwelttoxikologe an der Goethe-Universität
Frankfurt, Fraunhofer IME und dem LOEWE Zentrum TBG für Translationale
Biodiversitätsgenomik. Dies und die ungestörte Sedimentschichtung, in denen die
Jahre ähnlich wie bei Jahresringen eines Baumstamms sichtbar werden, habe den
See zu einem interessanten Forschungsobjekt gemacht.
Das Wissenschaftsteam verknüpfte nun die Analysedaten des
Bohrkerns mit Klimaaufzeichnungen, wobei Extremtemperaturen und
Niederschlagsmengen von besonderem Interesse waren, und entwickelte mithilfe
einer künstlichen Intelligenz ein Modell, um den Einfluss der
Umweltveränderungen auf die Zusammensetzung der Süßwassergemeinschaft zu
erklären und zeitlich sowie räumlich auflösen zu können. Das Ergebnis: 90
Prozent der Veränderungen in der funktionellen biologischen Vielfalt des Ring
Lake waren auf den Eintrag von Insektiziden und Fungiziden in Verbindung mit
extremen Temperatur- und Niederschlagsereignissen zurückzuführen.
Zwar verringerte sich die landwirtschaftliche Nutzung in der
Umgebung des Sees Ende des Jahrhunderts und führte zu einer Verbesserung der
Wasserqualität. Das deutsch-britische Wissenschaftsteam musste jedoch
feststellen, dass der ursprüngliche ökologische Zustand des Sees nicht
wiederhergestellt werden konnte.
Henner Hollert erläutert: „Wir konnten zeigen, dass der Schwund
der Artenvielfalt in einem Ökosystem ist nicht komplett reversibel ist: Die
Lebensgemeinschaft funktioniert nicht mehr so wie vorher, da Arten fehlen, die
bestimmte Ökosystemleistungen in dem System erbracht haben. Wir werden unser KI-System,
unsere ‚Zeitmaschine für die Biologische Vielfalt', jetzt an weitere Seen
testen, etwa in einem aktuellen interdisziplinären DFG-Projekt zur
Wechselwirkung Mensch und Umwelt im späten Mittelalter mit der TU Darmstadt,
dem Geoforschungszentrum Potsdam, der Landesdenkmalpflege Baden-Württemberg
sowie den Universitäten Tübingen und Braunschweig. Lehren aus der Vergangenen
können uns für die Zukunft helfen: Unser Ziel ist es, Behörden ein Warnsystem
an die Hand zu geben, womit ökologisch bedrohliche Entwicklungen frühzeitig
abgeschätzt und Gegenmaßnahmen ergriffen werden können, zum Beispiel indem die
Verwendung bestimmter Biozide in der Umgebung eines Ökotops eingeschränkt
wird.“
Die Ökotoxikologin Prof. Dr. Luisa Orsini, die auch eine
Hückmann-Stiftungsgastprofessur an der Goethe-Universität innehat und bei dem
Exzellenznetzwerk RobustNature mitwirkt, unterstreicht die Vorteile der neue
KI-basierten Methode: „Die von uns verwendeten Hochdurchsatzanalysen
ermöglichen es, die Gesamtheit der Lebewesen in einem Ökosystem zu beobachten
und zu ihrer Umwelt in Beziehung zu setzen. Damit können wir langfristige
Trends in der Entwicklung eines Ökosystems erheblich besser abschätzen als
bisherige Überwachungsmethoden, die sich nur an einer oder wenigen Arten orientieren,
und die Faktoren identifizieren, die sich am stärksten auf die Biodiversität
auswirken.“
Über den Forschungscluster
RobustNature: https://www.robustnature.de/de/
Publikation:
Niamh Eastwood, Jiarui Zhou, Romain
Derelle, Mohamed Abou-Elwafa Abdallah, William A Stubbings, Yunlu Jia, Sarah E
Crawford, Thomas A Davidson, John K Colbourne, Simon Creer, Holly Bik, Henner
Hollert, Luisa Orsini: 100 years of
anthropogenic impact causes changes in freshwater functional biodiversity.
eLife (2023) https://elifesciences.org/articles/86576