Wissenschaftler der Goethe-Universität untersuchen, inwiefern Emotionen essentiell für biologische und künstliche Intelligenzen sind
Gefühle spielen in unserem Leben eine große Rolle. Doch warum gibt es sie? Sind Emotionen eine Laune der Natur, oder war ihre Entstehung aus evolutionärer Sicht unausweichlich? Prof. Claudius Gros vom Institut für Theoretische Physik der Goethe-Universität gibt in einer neuen Studie eine eindeutige Antwort.
FRANKFURT. Von
ihrer Funktion her sind Emotionen abstrakte Kriterien, mit deren Hilfe selbst
unterschiedliche Tätigkeiten vergleichend bewertet, und damit Ziele und
Aufgaben effizient ausgewählt werden können – so das Ergebnis der Studie von
Prof. Claudius Gros, die seit heute online zu lesen ist.
Evolutionär ist alles vorteilhaft, was die Anzahl an Nachkommen
erhöht. Wenn Verhaltensweisen nicht direkt genetisch gesteuert werden, also
nicht durch Instinkte, muss ein Lebewesen in der Lage sein, die Folgen seines
Handelns zu berechnen, bzw. zu prognostizieren. Die Realität ist jedoch komplex
und damit chaotisch („Schmetterlingseffekt“). Daher können Auswirkungen
prinzipiell nur begrenzt berechnet werden, was im Fall sozial organisierter
Lebewesen nochmals schwieriger ist: In einer Gemeinschaft muss das Individuum
zusätzlich die Absichten der Anderen ausfindig machen. In diesem Zusammenhang
wurde die „Theorie des sozialen Gehirns“ formuliert, der zufolge sich das das
menschliche Gehirn vor allem deshalb so rasch entwickelt hat, weil es vor der
Aufgabe stand, die Komplexität des sozialen Kontexts zu bewältigen.
Kognitive Fähigkeiten, also Intelligenz, erweitern die Palette der
Handlungsoptionen. Vom maschinellen Lernen wissen wir, dass die rechnerischen
Anforderungen mit der Komplexität der Problemstellung überaus schnell
ansteigen. Um Entscheidungen zu treffen, benötigen Lebewesen mit komplexen
Handlungsoptionen daher einen Mechanismus, der die rechnerischen, d.h. die
kognitiven Anforderungen deutlich reduziert. Das ist es, was Emotionen
ermöglichen.
Sehr unterschiedliche Tätigkeiten können ein und dasselbe Gefühl
auslösen – zum Beispiel Langeweile, Aufregung, Befriedigung. So kann es genauso
befriedigend sein, mit Freunden zu Essen, wie Geige zu spielen oder durch den
Ärmelkanal zu schwimmen. Nach materiellen Kriterien ließen sich diese
Tätigkeiten kaum auf einen Nenner bringen, etwa danach, wie viel Geld dabei
herauskommt. Funktional entsprechen Emotionen folglich abstrakten
Bewertungskriterien, auch wenn sie als Empfindungen höchst real sein können.
Individuen, die über emotionale Entscheidungsmechanismen verfügen, versuchen
ihre Tätigkeiten so auszuwählen, dass diese im Mittel mit ihrem „Charakter“ im
Einklang sind. Dabei ist der Charakter mathematisch als eine Menge von
Präferenzen definiert: Wie häufig strebt jemand – relativ gesehen – eher
bequeme, spannende oder produktive Tätigkeiten an?
Uns ist in der Regel nicht bewusst, wie viele biochemische Prozesse
beständig in unserem Gehirn ablaufen. Die biologischen Grundlagen von Emotionen
(die ‚neuronalen Korrelate') können wir dagegen in der Form von Gefühlen
wahrnehmen. Interessanterweise sind die dafür notwendigen neurobiologischen
Strukturen phylogenetisch jung, d.h. erst bei höheren Affen voll ausgebildet.
Diese Strukturen erlauben es, Emotionen ihrerseits kognitiv zu regulieren, und
somit den kognitiv-emotionalen Regelkreis zu schließen. Im umgekehrten Fall,
also wenn uns die Evolution keine Gefühle mitgegeben hätte, könnten wir unsere
Emotionen, also die entsprechenden Gehirnprozesse, nicht regulieren. Das würde
der wissenschaftlichen Definition von „Zombies“ durch die beiden
Neurowissenschaftler Christof Koch and Francis Crick entsprechen. Diese kann man
als denkfähigen Wesen ansehen, die Triebe haben, diese aber nicht kontrollieren
können, da sie sich ihrer nicht bewusst sind.
Ein emotionales Kontrollsystem ist nicht nur für Menschen und
hochentwickelte nicht-menschliche Tiere von essentieller Bedeutung, sondern
auch für potentielle künstliche Intelligenzen. Synthetische und biologische
Emotionen müssen funktional äquivalente Rollen erfüllen, wogegen sie sich
hinsichtlich der spezifischen Ausprägungen unterscheiden können.
Roboter-Emotionen werden sich nicht – wie in vielen Filmen dargestellt –
sekundär entwickeln. Synthetische Emotionen sind vielmehr eine unabdingbare
Voraussetzung für eigenständig agierende universelle Intelligenzen, sofern es
diese jemals geben sollte.
Publikation: Claudius Gros, „Emotions as abstract
evaluation criteria in biological and artificial intelligences“, Frontiers In
Computational Neuroscience Vol. 15, 177 (2021)
https://www.frontiersin.org/article/10.3389/fncom.2021.726247