Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Nachwuchspreis 2020
Die Bildung der Geschlechtszellen und die erste Zellteilung der befruchteten Eizelle sind fehleranfällige Prozesse. Manchmal stimmt am Ende die Zahl der Chromosomen nicht oder der Zwei-Zell-Embryo hat zwei Zellkerne pro Zelle statt einem Zellkern. Meistens münden diese Fehler in einer Fehlgeburt. Judith Reichmann hat bei Mäusen Fehlerquellen entdeckt, die dafür verantwortlich sind.
Die beiden Spindeln hat Reichmann mit der
sogenannten Lichtblattmikroskopie entdeckt, die sie zu diesem Zweck
weiterentwickelt hat. Die Embryonen der Maus vertragen kein Dauerlicht und
können deshalb nicht mit einem herkömmlichen Mikroskop untersucht werden. Bei
einem Lichtblattmikroskop wird nur die Ebene beleuchtet, die gerade beobachtet
wird. Der Rest des Embryos bleibt im Dunkeln.
„Judith Reichmann hat gezeigt, wie Mäuse dafür
sorgen, dass ihre Nachkommen die korrekte Zahl an Chromosomen und nur einen
Zellkern haben. Beides ist für eine erfolgreiche Fortpflanzung ungeheuer
wichtig“, schreibt der Stiftungsrat in seiner Begründung zur Preisvergabe.
„Reichmanns Forschung trägt vielleicht eines Tages dazu bei, dass die Rate an
Fehlgeburten bei Frauen reduziert werden kann – vorausgesetzt die bei Mäusen
identifizierten Fehlerquellen gelten auch für die menschliche Fortpflanzung“.
Reichmann hat mit Tex19.1 ein Protein entdeckt, das
die Chromosomen während der Halbierung des doppelten Chromosomensatzes indirekt
stabilisiert. Dieser als Meiose bezeichnete Prozess sorgt dafür, dass die
Geschlechtszellen mit einem einfachen Chromosomensatz in die Befruchtung gehen,
sonst würde sich der Chromosomensatz mit jeder Generation verdoppeln. Dass die
Chromosomen während der Meiose stabilisiert werden müssen, liegt daran, dass
dieser Prozess in den Eizellen für längere Zeit unterbrochen und erst vor dem
Eisprung beendet wird. Fehlt Tex19.1, driften die Chromosomen während der Meiose
auseinander. Das führt dazu, dass viele Embryonen unter den Nachkommen nicht
die korrekte Zahl an Chromosomen haben.
Mit der Entdeckung der zwei Spindeln während der
ersten Zellteilung der befruchteten Eizelle hat Reichmann dafür gesorgt, dass
Lehrbücher umgeschrieben werden müssen. Bisher ist man davon ausgegangen, dass
der väterliche und mütterliche Chromosomensatz in der Eizelle verschmilzt und
dann über einen Spindelapparat auf die beiden Tochterzellen verteilt wird.
Reichmann konnte mit der Lichtblattmikroskopie zeigen, dass die väterlichen
und mütterlichen Chromosomen getrennt voneinander und über zwei Spindeln in der
Mitte der befruchteten Eizelle angeordnet und dann auf die Pole verteilt
werden. Auch im Zellkern des Zwei-Zell-Embryos bleiben die beiden
Chromosomensätze zunächst noch in unterschiedlichen Hemisphären, bevor sie sich
dann mit jeder weiteren Teilung mehr und mehr durchmischen.
Falls der väterliche und
mütterliche Chromosomensatz auch beim Menschen erst im Zwei-Zell-Embryo verschmilzt,
müsste auch noch einmal über das Embryonenschutzgesetz diskutiert werden, denn
für dieses Gesetz beginnt menschliches Leben mit der Verschmelzung von
mütterlichem und väterlichem Erbgut. Das ist aber bisher in der befruchteten
Eizelle verortet worden, nicht im Zwei-Zell-Embryo. Reichmanns Forschung hat
damit auch in dieser Hinsicht Fragen aufgeworfen.
Kurzbiographie Dr. Judith Reichmann
Judith Reichmann (35) studierte
Angewandte Biologie an der Fachhochschule Bonn-Rhein-Sieg. Zum Ende ihres Studiums
wechselte sie an die Universität Aberdeen in Schottland, wo sie noch einen
Bachelor in Genetik machte. An der Universität Edinburgh promovierte sie über
Prozesse zur Entstehung von Ei- und Spermienzellen. Reichmann kam 2012 als
Postdoktorandin an das EMBL, um die Zellteilungen am Beginn des Lebens mit
neuesten Mikroskopie-Techniken zu untersuchen. Seit 2017 ist sie als
Wissenschaftlerin am EMBL tätig. Reichmann ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Der
Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Nachwuchspreis
Der
2006 erstmals vergebene Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Nachwuchspreis
wird von der Paul Ehrlich-Stiftung einmal jährlich an einen in Deutschland
tätigen Nachwuchswissenschaftler oder eine in Deutschland tätige
Nachwuchswissenschaftlerin verliehen, und zwar für herausragende Leistungen in
der biomedizinischen Forschung. Das Preisgeld von 60.000 € muss
forschungsbezogen verwendet werden. Vorschlagsberechtigt sind Hochschullehrer
und Hochschullehrerinnen sowie leitende Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen an deutschen Forschungseinrichtungen. Die Auswahl der
Preisträger erfolgt durch den Stiftungsrat auf Vorschlag einer achtköpfigen
Auswahlkommission.
Die
Paul Ehrlich-Stiftung
Die
Paul Ehrlich-Stiftung ist eine rechtlich unselbstständige Stiftung, die
treuhänderisch von der Vereinigung von Freunden und Förderern der
Goethe-Universität verwaltet wird. Ehrenpräsidentin der 1929 von Hedwig Ehrlich
eingerichteten Stiftung ist Professorin Dr. Katja Becker, Präsidentin der
Deutschen Forschungsgemeinschaft, die auch die gewählten Mitglieder des
Stiftungsrates und des Kuratoriums beruft. Vorsitzender des Stiftungsrates der
Paul Ehrlich-Stiftung ist Professor Dr. Thomas Boehm, Direktor am
Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg, Vorsitzender
des Kuratoriums ist Professor Dr. Jochen Maas, Geschäftsführer Forschung &
Entwicklung, Sanofi-Aventis Deutschland GmbH. Prof. Dr. Wilhelm Bender ist in
seiner Funktion als Vorsitzender der Vereinigung von Freunden und Förderern der
Goethe-Universität zugleich Mitglied des Stiftungsrates der Paul
Ehrlich-Stiftung. Die Präsidentin der Goethe-Universität ist in dieser Funktion
zugleich Mitglied des Kuratoriums.
Weitere Informationen
Alle Unterlagen der Pressemappe sowie
ein Foto von Frau Dr. Reichmann sind unter www.paul-ehrlich-stiftung.de zur Verwendung hinterlegt. Den
ausführlichen Lebenslauf, ausgewählte Veröffentlichungen und die Publikationsliste
erhalten Sie von Dr. Hildegard Kaulen, Telefon: +49 (0) 6122/52718, E-Mail: h.k@kaulen-wissenschaft.de