Die Linguisten Helmut Weiß und Ewa Trutkowski weisen nach, dass maskuline Personenbezeichnungen im Deutschen stets generisch interpretierbar waren
Gendersternchen oder Binnen-i? Unterstrich oder Doppelpunkt? Die feinteilige Diskussion um Notwendigkeit und Ausgestaltung einer „gendergerechten“ Sprache hält an. Prof. Helmut Weiß, der an der Goethe-Universität deutsche Sprachgeschichte lehrt, ist dem sprachhistorischen Aspekt der Debatte auf den Grund gegangen und plädiert für eine Versachlichung.
FRANKFURT. Den
tatsächlichen Sprachgebrauch in früheren Epochen des Deutschen haben Prof.
Helmut Weiß und Dr. Ewa Trutkowski in einer Studie untersucht, die in der
Zeitschrift „Linguistische Berichte“ veröffentlicht worden ist. Im Mittelpunkt
stand die Frage, inwiefern maskuline Personenbezeichnungen zu früheren Zeiten
„generisch“ verwendet wurden. Mit dem Ausdruck „generisch“ bezeichnet man in
der Grammatiklehre die Möglichkeit, solche Substantive geschlechtsabstrahierend
zu verwenden. Weiß und Trutkowski, die gemeinsam in der DFG-Forschungsgruppe
„Relativsätze“ forschten, führen den Nachweis darüber, dass maskuline
Substantive bereits im Althochdeutschen für beide biologischen Geschlechter
verwendet wurden – ebenso wie heute zum Beispiel das grammatikalisch feminine
Wort Person oder das Neutrum Mitglied.
Der Auslöser für die Studie sei die E-Mail einer
gendersprachkritischen Studentin gewesen, sagt Prof. Weiß, dessen
Forschungsschwerpunkt eigentlich in der historischen Grammatik liegt. Die
Studentin schrieb, dass das Wort „Studenten“ zwar aufgrund gesellschaftlicher
Verhältnisse in der Vergangenheit nicht schon immer sowohl Männer als auch
Frauen „gemeint habe“, in der Gegenwart aber durchaus generisch zu verstehen
sei. Grammatikalisch maskuline Personenbezeichnungen könnten stets generisch
interpretiert werden, antwortete Weiß spontan, hatte dann aber das Gefühl: Das
müsste man einmal gründlicher betrachten. So nahmen er und Trutkowski dies als
Ausgangshypothese für ihre sprachhistorische Untersuchung.
Für ihre Untersuchung nahmen sich die beiden Linguisten nicht in
erster Linie Berufsbezeichnungen vor, sondern Personenbezeichnungen und
Charakterisierungen, die seit jeher auch auf Frauen angewandt wurden. Indem man
auf diese Weise nicht-linguistische Einflussfaktoren wie die Rolle der Frau in
der Gesellschaft möglichst außen vor ließ, habe man das weit verbreitete
Argument gegen den Gebrauch des generischen Maskulinums entkräften wollen –
nämlich dass dieses eine sprachgeschichtlich sehr junge Erscheinung sei, die
erst mit dem Vordringen der Frauen in Männerberufe entstanden sei. Denn das
Gegenteil sei der Fall: Das Generische sei sozusagen schon immer im Deutschen
fest verankert.
Beispiele wie das Messer, die Gabel, der Löffel machten, so
Weiß, schon dem sprachwissenschaftlichen Laien deutlich, dass die Kategorie
Genus kaum 1:1 mit einem etwaigen biologischen Geschlecht zusammenhänge. „Für
die Verteilung des grammatischen ‚Geschlechts' gibt es durchaus Regeln, aber
die sind nicht semantischer Art“, sagt er. Es sei wissenschaftlich
nachgewiesen, dass die Genera ursprünglich Belebtes (maskulin) und Unbelebtes
(neutrum) und Kollektiva (feminin) voneinander unterschieden. Das Genussystem
hat vor allem einen syntaktischen Zweck: Da zugeordnete Wörter wie Adjektive
formal übereinstimmen (kongruent sind), hilft es bei der Strukturierung von
Sätzen und bei der Herstellung von Bezügen zwischen nominalen Ausdrücken
(z.B. „Otto kennt Maria, seit er/sie 10 ist“). Zwar
besteht durchaus eine Beziehung zwischen Genus und Sexus – allerdings nur in
die eine Richtung: Sexus kann sich im Genus bemerkbar machen, der Umkehrschluss
ist jedoch nicht zulässig.
Weiß und Trutkowski haben sich allgemeine Personenbezeichnungen
vorgenommen wie Freund, Feind, Gast, Nachbar, Sünder – und konnten
nachweisen, dass diese im Alt- und Mittelhochdeutschen keineswegs
geschlechtsspezifisch verwendet wurden, sondern vielmehr generisch. So schrieb
der althochdeutsche Dichter Otfrid von Weißenburg im 9. Jahrhundert von Jesus
und Maria als Gästen der Hochzeit von Kana: „Ni ward io in wóroltzitin,
/ thiu zisámane gihitin, / thaz sih gésto guati / súlihhero rúamti. / Thar was
Kríst guater / joh sélba ouh thiu sin múater“ („Zu keiner Zeit hat sich ein
Hochzeitspaar rühmen können, so hohe Gäste zu haben (wie diese): Der heilige
Christus und auch seine Mutter waren da erschienen.“). Oder im
mittelhochdeutschen Frauenbuch von 1257 heißt es: „ir bedörft ein wîp ze
friunde niht“ („ihr bedürft eines Weibes zum Freunde nicht“). Auch für die
besonders in der Kritik stehenden Personenbezeichnungen auf -er belegt
die Untersuchung eine sexusneutrale Verwendung, etwa in dem Satz: „die von
alter har burgere zu Straßburg gewesen sind, es sigent frowen oder man“ („die
von alters her Bürger in Straßburg gewesen sind, es seien Frauen oder Männer“).
Die Endung -er wird auf die lateinische Endung -arius
zurückgeführt, die im Althochdeutschen noch in einer maskulinen (-ari) und
femininen Form (-âra) vorkam.
Der vor kurzem erschienene Beitrag sei in einer Vorversion von
einem Preprint-Server (Lingbuzz) inzwischen mehr als zweieinhalbtausend mal
heruntergeladen worden, berichtet Prof. Weiß. Die Reaktionen seien vor allem
zustimmend. Insgesamt hofften er und Trutkowski, dass die Studie zur
Versachlichung der Debatte beitrage. Weiß selbst ist überzeugt, dass sich die
„gendergerechte“ Sprache allenfalls in Teilen der Sprachgemeinschaft
durchsetzen werde.
Publikation: Ewa Trutkowski u. Helmut Weiß, Zeugen gesucht! Zur Geschichte des
generischen Maskulinums im Deutschen. In: Linguistische Berichte 273/2023. https://doi.org/10.46771/9783967692792_2
Weitere Informationen
Prof. Dr. Helmut Weiß
Professur für Geschichte der deutschen Sprache
Institut
für Linguistik
Goethe-Universität
Frankfurt am Main
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Redaktion: Dr. Anke Sauter, Referentin für Wissenschaftskommunikation,
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