Sep 18 2007

Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften: Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie

Der Mensch im Netzwerk

FRANKFURT. Warum können Wahlforscher die Ergebnisse der nächsten Wahl so schlecht vorhersagen? Warum ist die Motivations- und Konsumforschung an ihre Grenzen gekommen? Solche Fragen sollen (neben anderen) bei der Tagung »Ein neues Paradigma in der Sozialwissenschaft: Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie« geklärt werden, zu der vom 27. bis 28. September etwa 100 internationale Wissenschaftler zu mehr als 50 Vorträgen auf dem Campus Westend der Universität Frankfurt erwartet werden.

Die klassischen Methoden der empirischen Sozialforschung kommen immer dann an ihre Grenzen, wenn einzelne Personen befragt oder interviewt werden, ohne ihre sozialen Beziehungen zu berücksichtigen. Die traditionelle Wahl- und Konsumforschung tut genau das: Es werden Individualmerkmale aggregiert, gruppiert und kontrastiert. Warum Personen handeln und wie sie handeln, lässt sich daraus kaum erklären, denn das Handeln ist an die Menschen gebunden, die uns umgeben. Erst in der Auseinandersetzung mit den sie umgebenden Personen bilden die Menschen ihre Identität aus. Dies bedeutet, dass eine Untersuchung der Menschen unter Berücksichtigung ihres Beziehungskontextes, wie dies in der sozialen Netzwerkanalyse der Fall ist, mehr Erfolg haben müsste. Das Umschwenken von einer Betrachtung einzelner Individuen hin zu einem Netzwerkgedanken, bei dem auch die Zusammenhänge thematisiert werden, findet sich nicht nur in der Soziologie. Die Ideen sind auch auf andere wissenschaftliche Disziplinen übergeschwappt und liefern dort oft neue und überraschende Erkenntnisse. Die in den einzelnen Disziplinen verwendeten Methoden und Theorien sind in großen Teilen übertragbar - und wenn nicht, können sie in den Fächern Denkanstöße liefern oder zu Kooperationen führen.

Mittlerweile ist die soziale Netzwerkanalyse in den USA zum wichtigsten Sozialforschungsparadigma aufgestiegen. Im deutschsprachigen Raum gibt es dagegen noch einen deutlichen Nachholbedarf. Die Netzwerkanalyse bietet enorme Perspektiven für die Grundlagenforschung, darüber hinaus sind in den USA bereits bedeutende praktische Anwendungen entstanden - etwa in der Organisationsberatung oder der Terrorbekämpfung. Zu den praktischen Anwendungen von Ideen der Netzwerkanalyse gehören auch die zahlreichen Freundschafts- und Business-Netzwerke im Internet. Das gesamte Potenzial dieser Forschungsrichtung ist gegenwärtig noch gar nicht abzusehen. In der klassischen deutschen Soziologie finden sich bereits zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Netzwerkanalyse. Diese werden international nicht ausreichend wahrgenommen, etwa die Tradition der formalen Soziologie: Georg Simmel (1908) beispielsweise hat vieles von dem, was heute als »neu« betrachtet wird, in seinem Werk bereits vorweggenommen. Gegenüber den USA ist die mitteleuropäische Theorietradition im Vorteil, da der in Amerika vorherrschende methodologische Individualismus dem Entstehen der »neuen« strukturalistischen Ideen enge Grenzen setzt. In jüngster Zeit mehren sich auch die Anzeichen, dass die Systemtheorie, vor allem in der von Niklas Luhmann entwickelten Fassung, eine gute Chance hat, verstärkt in netzwerkanalytischen Ansätzen aufgegriffen zu werden.

Obgleich es bereits zahlreiche Untersuchungen zur sozialen Netzwerkanalyse gibt, und die Mächtigkeit der Netzwerktheorie und -analyse gut dokumentiert ist, sind sehr viele Fragen innerhalb dieses neuen Forschungsparadigmas immer noch offen. Ein Teil dieser Fragen soll auf der Tagung vom 27. bis 28. September 2007 in Frankfurt geklärt werden.

Nähere Informationen: PD Dr. Christian Stegbauer, Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Telefon 069/798 22473, E-Mail: stegbauer@soz.uni-frankfurt.de

WEITERE INFORMATIONEN

Internationale Tagung
»Ein neues Paradigma in der Sozialwissenschaft: Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie«

wann?
27.09. 9 Uhr bis 28.09. 13 Uhr

wo?
Campus Westend, Casino 1.801
Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt