Apr 26 2006

Frankfurter Medizinhistoriker zeigt, wie Unrechtsgesetz entstand

Zwangssterilisation im Nationalsozialismus

FRANKFURT. Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach fielen aber dem nationalsozialistischen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933 mehr als 300.000 Menschen zum Opfer. Zwar wurde das Gesetz nach 1945 nicht mehr angewandt, doch der Bundestag setzte es erst 1974 formal außer Kraft. Bis heute ist das Gesetz jedoch nicht für nichtig erklärt worden. Der Frankfurter Medizinhistoriker Prof. Udo Benzenhöfer hält dies für skandalös. Er hat die Entstehung des Unrechtsgesetzes in seinem neuen Buch anhand bislang wenig beachteter Akten des Reichsinnenministeriums erstmals detailliert analysiert.

Schon vor 1933 war international und national über die Sterilisation diskutiert worden. So gab es beispielsweise in einzelnen Bundesstaaten der USA bereits vor dem Zweiten Weltkrieg Sterilisationsgesetze. In der Endphase der Weimarer Republik entwarf der Preußische Landesgesundheitsrat 1932 ein Sterilisationsgesetz, in dem aber die Zustimmung der Betroffenen zur Bedingung gemacht wurde.

Dass in der NS-Zeit ein sehr viel radikaleres Gesetz verabschiedet wurde, geht auf personelle Veränderungen im Reichsinnenministerium nach der Machtübernahme Hitlers zurück. Mit der Ernennung des Nationalsozialisten Wilhelm Frick zum Innenminister am 30.1.1933 begann sehr rasch eine „rassenhygieneorientierte“ Umgestaltung der zu seinem Ministerium gehörigen Medizinalabteilung. Ministerialbeamte, die ein radikales Sterilisationsgesetz verhindern wollten, wurden von Frick entlassen oder versetzt. Zum 1.5.1933 berief er dann Dr. med. Arthur Gütt, einen ehrgeizigen Nationalsozialisten und ausgesprochenen Verfechter der eugenischen (Zwangs-) Sterilisation, als Medizinalreferenten. Gütt wurde zum „Schöpfer“ des Sterilisationsgesetzes (so Frick).

Nach einer Konsultation des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik und nach einer kurzen Abstimmung mit dem Justizministerium wurde der Gesetzentwurf von Frick und Gütt schon am 14.7.1933 dem Kabinett zur Verabschiedung vorgelegt. Der Reichstag und die Länder mussten nicht damit befasst werden, denn durch das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom März 1933 war die Regierung ermächtigt worden, gesetzliche Maßnahmen aus eigener Vollmacht zu ergreifen.

Die Kabinettssitzung am 14.7.1933 war nur noch eine kleine Hürde für das Gesetz. Vizekanzler von Papen (Zentrums-Partei) brachte zwar Einwände vor und bat um Milderung des Entwurfs im Sinne der Freigabe nur der freiwilligen Sterilisation. Doch er wusste wohl, dass er von den übrigen Kabinettsmitgliedern (Mitgliedern der NSDAP, der DNVP oder parteilos) überstimmt werden würde, denn er bat für den Fall der Annahme des Gesetzes darum, die Veröffentlichung bis nach Abschluss der Konkordatsverhandlungen mit der katholischen Kirche zurückzustellen.

Hitler verwies in seiner Entgegnung auf die Gefahr für die Zukunft des Volkes, wenn sich „erbkranke Menschen in erheblichem Umfange fortpflanzten, während andererseits Millionen gesunder Kinder ungeboren blieben“. Der Gesetzentwurf wurde vom Kabinett angenommen. Papens Bitte um verzögerte Mitteilung wurde gewährt; die Veröffentlichung des Gesetzes erfolgte erst am 25.7.1933 im Reichsgesetzblatt.

Das Gesetz selbst war zwar - wie die genaue Analyse Benzenhöfers zeigt - im Aufbau und in einzelnen Formulierungen an den Entwurf des Preußischen Landesgesundheitsrates von 1932 angelehnt. Doch für die Bewertung entscheidend ist, dass mit § 12 die zwangsweise Sterilisation möglich wurde, wenn die Betroffenen sich nach dem Spruch des Erbgesundheitsgerichts nicht „freiwillig“ in ihr „Schicksal“ ergaben. Diese Drohung mit direktem Zwang war das Zentrum dieses Unrechtsgesetzes.

Bis heute entfaltet das Gesetz weiter rechtliche Wirkung für die Opfer war und ist es sehr schwer, eine ausreichende Entschädigung zu erhalten. Aus seiner Analyse der Genese dieses Unrechtsgesetzes leitet Benzenhöfer ein starkes Argument dafür ab, das Gesetz endlich für nichtig zu erklären. Dies wurde unlängst vor allem vom „Bund der ‚Euthanasie’-Geschädigten und Zwangssterilisierten“ gefordert.

Literatur: Udo Benzenhöfer: Zur Genese des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Münster: Klemm & Oelschläger 2006.


Kontakt: Prof. Dr. Udo Benzenhöfer, Senckenbergisches Institut für Geschichte der Medizin, Universität Frankfurt, Tel.: 069/6301-5662, E-Mail: gudrun.schmidt@em.uni-frankfurt.de.