Apr 13 2006

Ringvorlesung am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften

Welche Sozialpolitik braucht das 21. Jahrhundert?

FRANKFURT. Das vergangene Jahrhundert kann als Jahrhundert der Sozialpolitik und des Sozialstaats charakterisiert werden, weil es auf lange Frist von einer Intensivierung der Sozialpolitik und einem Ausbau des Sozialstaats gekennzeichnet ist. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist ein weithin anerkanntes Erfolgsmodell, das nun allerdings an Grenzen gestoßen scheint und verstärkter Kritik ausgesetzt wird. Sozialpolitik und die Tragfähigkeit des Sozialstaates werden im 21. Jahrhundert vor neue Herausforderungen gestellt, insbesondere wegen der Begleiterscheinungen von nachdrücklichen Globalisierungstendenzen, von struktureller Arbeitslosigkeit und von beschleunigten Alterungstendenzen der Bevölkerung. Moderne komplexe Gesellschaften können im Anschluss an den bisher beschrittenen Entwicklungspfad versuchen, neu entstandene Probleme durch die Umgestaltung ihrer Institutionen zu bewältigen. An den sozialstaatlichen Zielen der sozialen Sicherung für die breite Bevölkerung und der Existenzsicherung für die ärmeren Bevölkerungsgruppen werden kaum Abstriche vorgenommen, nicht zuletzt weil die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung ge-sellschaftlichen Zusammenhalts gesehen wird. Aber die Mittel und Instrumente der Sozialpolitik – ihre Gestaltung und ihr Umfang – sind verstärkt in Diskussionen und in Spannungsfelder geraten, insbesondere im Hinblick auf gegensätzliche Ziel wie „Eigenverantwortung“ und „Solidarität“.

Am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, an dem immer auch sozialpolitische Themen behandelt wurden, hat sich jüngst der Forschungsschwerpunkt „Sozialstruktur und Sozialpolitik“ gebildet, der die vielfältigen Rückkopplungen zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und sozialpolitischen Aktivitäten zur Forschungsaufgabe macht. Sozialpolitik erscheint in ihren Funktionen für den Ausgleich und den Zusammenhalt der Gesellschaft unersetzlich. Unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen sollte das Anliegen sein, Sozialpolitik und Sozialstaat so weiter zu entwickeln, dass sie zur Lösung der sich abzeichnenden Probleme beitragen können.

Vorträge jeweils montags 18 bis 20, Hörsaal H, Altes Hauptgebäude, gegenüber der historischen Aula, Campus Bockenheim, Mertonstr. 17. 60325 Frankfurt.

Kontakt: Wolfgang Glatzer (glatzer@soz.uni-frankfurt.de), Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse, Schwerpunkt: Sozialstruktur und Sozialpolitik; Robert-Mayer-Str. 5; 60325 Frankfurt; Tel.: 069/798-23584; Fax: 069/798-28026; E-Mail: glatzer@soz.uni-frankfurt.de

P r o g r a m m:

24. April

Christine Hohmann-Dennhardt (Bundesverfassungsgericht Karlsruhe): Gerechtigkeitsprobleme im Sozialstaat

8. Mai

Anthony B. Atkinson (Nuffield College, Oxford University): EU Social Policy in a Globalizing Context

22. Mai

Richard Hauser (Universität Frankfurt): Alternativen einer Grundsicherung – soziale und ökonomische Aspekte

12. Juni

Ilona Ostner (Georg-August-Universität Göttingen): Wohlfahrtspluralismus als gesellschaftspolitische Leitidee

26. Juni

John Stephens (University of North Carolina at Chapel Hill): Models of Welfare States in Europe and Abroad

10. Juli

Diether Döring (Akademie der Arbeit, Universität Frankfurt): Sozialstaat und Erwerbstätigkeit in Europa

WEITERE INFORMATIONEN

Auf dem Weg in und durch das 20. Jahrhundert hat die Frankfurter Universität eine herausragende Rolle in der wissenschaftlichen Begleitung der praktischen Sozialpolitik gespielt. Bereits die Gründer der ursprünglich privaten Stiftungs-Universität - unter ihnen vor allem Wilhelm Merton - traten mit sozialpolitischen Zielsetzungen an die Öffentlichkeit. Das 1890 gegründete „Institut für Gemeinwohl“ und das 1923 eingerichtete „Institut für Sozialforschung“ befassten sich als private Stiftungen zentral mit der „sozialen Frage“. In der 1901 eingerichteten „Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften“, die eine unmittelbare Grundlage der Universitätsgründung darstellt, wurden neben Handels- und Wirtschaftsthemen nicht zuletzt „Armenfürsorge“ und „kommunale Sozialpolitik“ behandelt. Frankfurt (und seine Universität) waren nicht nur Finanzstadt, sondern auch die Stadt sozialer Anliegen, was auch in der Einrichtung sozialpolitischer Lehrstühle seinen Ausdruck fand. Die beiden - gegenwärtig umgewidmeten - Professuren für Sozialpolitik am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften waren Ausgangspunkt für wissenschaftliche Erfolge und praktische Einflussnahme. In der Geschichte der wissenschaftlichen Sozialpolitik sind alle Namen der Professoren Christian Jasper Klumcker, Hans Achinger, Helmut Meinhold, Hans Jürgen Krupp, Richard Hauser und Roland Eisen mit markanten wissen-schaftlichen Leistungen verbunden. Unter anderem hat Hans Jürgen Krupp (mit Wolfgang Zapf) das Sozialpolitische Entscheidungs- und Indikatorensystem (1972 – 1978) und an den Universitäten Frankfurt und Mannheim den Sonderforschungsbereich 3 Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik (1979 – 1990) ins Leben gerufen, dessen Ausstrahlung noch heute zu bemerken ist. Das in diesem Sonderforschungsbereich etablierte Sozio-ökonomische Panel (jetzt beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin angesiedelt) hat sich zu einem weltweit anerkannten Instrument der gesellschaftlichen Dauerbeobachtung und Sozialstaatsanalyse entwickelt. Richard Hauser hat mit seinen Verteilungsanalysen die Reichtums- und Armutsberichte der Bundesregierung wesentlich mitgestaltet und er war viele Jahre als Vorsitzender der Josef Popper Nährpflicht-Stiftung, die Armutsforschung förderte, das Thema „Grundeinkommen“ und Mindestsicherung zur Diskussion stellte.