Mai 6 2008

Warum sich komplexe politische Konflikte nur mit Respekt und nicht mit der Dominanz der Mehrheit lösen lassen

Toleranz – ein schwieriger Balanceakt

FRANKFURT. Ist es intolerant, einer Lehrerin muslimischen Glaubens das Tragen eines Kopftuchs im Unterricht zu untersagen – oder ist das Kopftuch selbst ein Symbol der Unfreiheit und Intoleranz? Ein Beispiel für komplexe politische Konflikte, in denen jede Partei für sich die Tugend der Toleranz reklamiert. Ob es um den Bau von Moscheen, das Kruzifix in Klassenraum, die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften geht, immer wieder wird der ehrwürdige Begriff der Toleranz bemüht, um Konflikte zu entschärfen – aber was heißt »Toleranz« genau? Der Philosoph und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Rainer Forst beschäftigt sich mit verschiedenen, auch historisch gewachsenen Konzeptionen von Toleranz. Sein favorisiertes Modell orientiert sich an dem Prinzip des wechselseitigen Respekts: Vertritt der Andere eine Auffassung, die man zwar als falsch erachtet, die aber weder unvernünftig noch unmoralisch ist, so gibt es keine ausreichenden Gründe, diese Überzeugung zurückzuweisen. Und dabei ist es unmaßgeblich, ob es sich um die Position einer Mehrheit oder Minderheit handelt.

Diese demokratische Respekt-Konzeption beschreibt Forst, der zu der jüngeren Generation der »Frankfurter Schule« zählt und einer der Sprecher des Exzellenz-Clusters »Herausbildung normativer Ordnungen« ist, in seinem Beitrag in der soeben erschienenen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Forschung Frankfurt: »Dabei ist die Toleranz eine Haltung der Bürger zueinander: Sie sind zugleich Tolerierende und Tolerierte, und zwar als dem Recht zugleich Unterworfene und es Autorisierende. Obwohl sie in ihren Vorstellungen über das Gute und das Seligmachende deutlich voneinander abweichen, erkennen sie einander einen Status als gleichberechtigte Bürger zu, der besagt, dass die allen gemeinsame Grundstruktur des politischen und sozialen Lebens allein auf solchen Normen beruhen darf, die alle Bürger gleichermaßen akzeptieren können. Die ›Autorität‹, Freiheiten zu ›verleihen‹, liegt nicht bei einem Machtzentrum, sondern in einem Prozess der Legitimation, der bestimmte Grundrechte nicht verletzen darf und in Grundsatzfragen ein besonderes Rechtfertigungsniveau vorsieht.«

Was bedeutet diese auf Respekt beruhende Toleranz-Konzeption in Bezug auf die Religionsfreiheit? Aus Gründen der Fairness gegenüber Minderheiten müssen zentrale gesellschaftliche Institutionen eine Position der religiösen Neutralität einnehmen. Im Fall des Kopftuchstreits ist es nach dieser Toleranz-Konzeption freilich nicht gerechtfertigt, unabhängig vom Einzelfall ein Pauschalurteil zu fällen, das allen muslimischen Lehrerinnen das Tragen eines »auffälligen« religiösen Symbols verbietet.

Tolerant zu sein heißt, dass man die religiösen Überzeugungen und kulturellen Praktiken anderer, mit denen man keinesfalls übereinstimmt, dulde, sofern Klarheit darüber bestehe, auf welcher Basis und mit welchen Grenzen dies geschehe. Dabei spielt das Verhältnis von Vernunft und Religion eine wichtige Rolle. »Es kommt darauf an, die Endlichkeit der menschlichen Vernunft in Fragen ›letzter‹ Wahrheiten so zu verstehen, dass man die Überzeugungen der anderen zwar nicht als ebenfalls wahr, aber auch nicht als unvernünftig ansieht. Der eigene Glaube kann nur dann als vernünftig gelten, wenn man sich bewusst ist, dass er ein Glaube ist und dieser sich positiv zu moralischen Grundsätzen verhält, die unabhängig, für alle moralisch verantwortlichen Personen gleichermaßen gelten«, schließt Forst seine Überlegungen.

Informationen:
Prof. Dr. Rainer Forst, Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Philosophie, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Tel. (069)798 -22046, forst@em.uni-frankfurt.de

Mit dem Thema »Religion in der Gesellschaft« beschäftigen sich folgende Beiträge in Forschung Frankfurt 1/2008:

  • Prof. Rainer Forst (Philosoph und Politikwissenschaftler): Die Ambivalenz der Toleranz
  • Prof. Thomas M. Schmidt (Religionsphilosoph) und Prof. Markus Witte (evangelische Theologe): »Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (Interview)
  • Prof. Ömer Özsoy (islamischer Theologe): Die fünf Aspekte der Scharia und die Menschenrechte
  • Prof. Knut Wenzel (katholischer Theologe): Gott in der säkularen Stadt
  • Prof. Bärbel Beinhauer-Köhler (Religionswissenschaftlerin): Muslimische Frauen in Moscheen – zwischen Tradition und Innovation
  • Ertugrul Sahin (Religionssoziologe): Der schwierige Weg zur Einbürgerung des Islam