Jun 10 2010

Frankfurter Sportsoziologe: Wo Bindungen in Großgruppen erodieren, suchen sich Menschen neue Gemeinschaften

Public Viewing – Die Fußball-WM als religiöses Fest

FRANKFURT. Tausende Menschen in der Commerzbank Arena, bunt geschminkt in den heimischen Farben und mit diversen Fußball-Accessoires geschmückt, die eigene Mannschaft laut anfeuernd. Nichts Außergewöhnliches – oder doch? Es sind zwar Zuschauer im Stadion, aber keine leibhaftigen Fußballspieler! Public Viewing, seit der Fußball-WM 2006 fester Bestandteil der deutschen Alltagskultur, weitet sich bei dieser WM auf neue Spielstätten aus. Welche Gründe lassen sich für den Boom des Public Viewing anführen? Dazu der Frankfurter Sportsoziologe Prof. Robert Gugutzer: „Diese Massenveranstaltungen zeigen, dass bei aller Individualisierung des sozialen Lebens die Menschen offenkundig weiterhin ein Bedürfnis nach Gemeinschaft und kollektiver Zugehörigkeit haben.“

Gugutzer hat beobachtet: Wo traditionelle Bindungen der Großgruppen erodieren, suchen sich die Menschen neue, alternative Gemeinschaften. An die Stelle von Verwandtschaft, Nachbarschaft, Dorfgemeinschaft oder großen Kirchenreligionen treten selbstgewählte „posttraditionale Gemeinschaften“, in und mit denen die Menschen etwas erleben wollen. „Public Viewing ist eine harmlose Möglichkeit, die Identifikation mit einem Kollektiv, etwa der eigenen Nation, lustvoll, kreativ und mit Spaß zum Ausdruck zu bringen.“ Die Sehnsucht nach Gemeinschaftserlebnissen und kollektiv geteilten Emotionen, zu denen „Events“ wie Public Viewing gehören, speist sich aus dem Frust über die immer gleichen, auferlegten Anstrengungen des Alltags. Denn damit verbunden sind Stress und nicht selten Langeweile: „Wer die täglichen Routinen als wenig spannend erlebt, der möchte ausbrechen, sich eine Gegenwelt zum Alltag schaffen.“ Soziologen beschreiben dies als „Festivalisierung der postmodernen Alltagskultur“. Männer wie Frauen, Junge wie Alte, Angehörige sozialer Unter- wie Oberschichten, die ganze Gesellschaft hat Teil an diesen sozial schrankenlosen Festen.

Wo religiöse Feste nicht mehr für den Kitt der Gesellschaft sorgen, sichern säkulare Feste ein Wir-Gefühl. Der Sportsoziologe erklärt: „Public Viewing ist eine außeralltägliche, zeitlich und räumlich begrenzte Sonderwelt mit quasi-religiösem Charakter. Gemeinsam wird zum Versammlungsort prozessiert, werden religionsähnliche Symbole gezeigt, Reliquien getragen, Rituale praktiziert, Gesänge angestimmt und auf ein ekstatisches, gar transzendentes Aufgehen in der Masse gehofft.“ Der Gott, zu dessen Ehren dieses Fest abgehalten werde, sei weniger ein einzelner Fußballer oder der Fußballsport selbst. „Vielmehr ist es ein individualisierter Gott, das eigene Ich, das hier massenhaft zelebriert wird.“ So erklärt es sich auch, dass Public Viewing eine große Party ist, zu der auch Menschen kommen, die von Fußball nichts verstehen, aber Lust auf eine Auszeit vom Alltag haben – „und dabei am liebsten ihren eigenen Gott feiern: sich selbst“, ergänzt Gugutzer. In diesem Sinne: Gehet hin in Frieden, die Commerzbank Arena lädt ein zum größten Public Viewing in Hessen!

Informationen: Prof. Robert Gugutzer, Abteilung Sozialwissenschaften des Sports, Institut für Sportwissenschaften (Ginnheim)Tel.: (069) 798-245 29, gugutzer@sport.uni-frankfurt.de