Jun 13 2009

Beitrag des Soziologen Stefan Müller-Doohm aus Anlass des 80. Geburtstags des Frankfurter Philosophen

Parteilichkeit für Vernunft - Jürgen Habermas als Philosoph und öffentlicher Intellektueller

FRANKFURT. Kein deutscher Gegenwartsphilosoph findet weltweit eine solche Aufmerksamkeit wie Jürgen Habermas, der am 18. Juni 80 Jahre alt wird und bis zu seiner Emeritierung 1994 an der Goethe-Universität lehrte und forschte. In seiner Doppelrolle als Wissenschaftler und Intellektueller, als Gesellschaftstheoretiker und streitbarer Diskutant hat er nicht nur das Modell der diskursiven Vernunft kreiert; er ist zugleich Praktiker dieser Diskursivität und hat damit die intellektuellen Debatten der vergangenen Jahrzehnte maßgeblich beeinflusst – von der Reform der Hochschulen über Embryonenforschung bis zur Zukunft Europas. In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Forschung Frankfurt“ beschreibt der Oldenburger Soziologe Prof. Stefan Müller-Doohm, der sowohl Biografien zu Adorno als auch zu Habermas verfasst hat, diese Doppelrolle, zeichnet dabei auch die entscheidenden Lebensetappen des „intervenierenden Denkers“ nach und setzt sie in Bezug zu Habermas’ philosphischem Werk.

Die Mentalitätsgeschichte der Bonner und Berliner Republik hat Habermas mit seinen öffentlichen Stellungsnahmen in Printmedien, offenen Briefen und Diskussionen bereits entscheidend geprägt. „Mit seismografischem Gespür hat er die Gesellschaft auf ihre eigenen normativen Vorgaben und deren Verletzung aufmerksam gemacht“, resümiert Müller-Doohm und erläutert dies in seinem Beitrag an verschiedenen Beispielen wie den Studentenprotesten, dem deutschen Herbst 1977 und dem Historikerstreit.

Mit seinem „polemischen Talent“ (Habermas über Habermas) und seinem opponierenden Geist nimmt Habermas in den gesellschaftspolitischen Diskussionen nie die Position eines distanzierten Beobachters ein; er ist Teilnehmer am gesellschaftlichen Geschehen und wendet sich in seinen öffentlichen Auftritten gegen ungerechtfertigte Formen der Macht. Seine durch konkrete Anlässe ausgelöste Kritik „ist eine kontroverse Stellungnahme, die neue Sichtweisen zu erschließen vermag und auf bislang Übersehenes aufmerksam machen will“, sagt Müller-Doohm, dessen Basis-Biografie zu Habermas im vergangenen Jahr bei Suhrkamp erschienen ist. In der von ihm geleiteten „Forschungsstelle Intellektuellensoziologie“ an der Carl von Ossietzky-Universität erarbeitet zurzeit ein Wissenschaftlerteam eine intellektuelle Biografie von Habermas, gefördert wird dieses Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Wie die tiefe Ambivalenz zwischen den kapitalistischen Zwängen des Marktes und der partizipativen Demokratie das Werk des Philosophen bestimmt, macht Müller-Doohm an einigen Beispielen deutlich. Dazu der Oldenburger Soziologe, der in den 1960er Jahren in Frankfurt bei Horkheimer und Adorno studiert hat: „Das Postulat der Demokratisierung erhält für Habermas angesichts der epochalen Dynamik einer Globalisierung und Deregulierung des Kapitalismus umso mehr Gewicht. Parallel mit der Expansion der kapitalistischen Ökonomie als weltweit verbreitete Wirtschaftsweise droht Demokratie erneut in die Defensive zu geraten, bedingt durch die politischen Konsequenzen dessen, was Habermas die ‚postnationale Konstellation’ nennt.“

Aus diesem Dilemma der Globalisierungsprozesse könne nur eine „Weltgesellschaft ohne Weltregierung“ heraushelfen, eine kosmopolitische Demokratie und Staatsbürgerschaft auf der Grundlage einer globalen Rechtsordnung. Eine supranationale Weltorganisation müsse sich zunächst auf Friedenssicherung, Menschenrechte und die Umwelt konzentrieren. Die Funktion der Weltinnenpolitik umschrieb Habermas 2005 in seinem Aufsatz „Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft?“ (veröffentlicht in: „Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze“) so: „...einerseits das extreme Wohlstandsgefälle der stratifizierten Weltgesellschaft zu überwinden, ökologische Ungleichgewichte umzusteuern und kollektive Gefährdungen abzuwehren, andererseits eine interkulturelle Verständigung mit dem Ziel einer effektiven Gleichberechtigung im Dialog der Weltzivilisation herbeizuführen.“

In Habermas’ kritischer Gesellschaftstheorie spielt der Begriff der „kommunikativen Vernunft“, den er gegenüber der instrumentellen Nützlichkeit abgegrenzt, eine zentrale Rolle. Wenn Habermas von der kommunikativen Freiheit als entscheidende Voraussetzung für die Selbstbestimmung in der Demokratie spricht, sei dies kein blinder Idealismus oder utopische Fiktion, so Müller-Doohm, und er ergänzt: „Ohne Zweifel muss der Theoretiker, dessen Reflexionsgegenstand die Gesellschaft dieser Epoche ist, zum unnachsichtigen Sozialkritiker werden, sobald er nachzuweisen vermag, dass die Gestaltung des Sozialen hinter seinen eigenen kommunikativen Möglichkeiten, hinter seinen eigenen Gerechtigkeitsansprüchen zurückfällt.“

Wie Habermas’ Werk die Scientific Community inspiriert und zu kontroversen Diskussionen inspiriert, auch darauf geht Müller-Doohm in seinem Beitrag für „Forschung Frankfurt“ ein: Viele von Habermas’ Kontrahenten hätten sich in ihren eigenen ideen- und wissenschaftspolitischen Positionen nur deshalb produktiv weiterentwickeln können, weil sie sich mit seinen Zeitdiagnosen und Schriften auseinandergesetzt hätten.

Nähere Informationen: Prof. Stefan Müller-Doohm, Forschungsstelle Intellektuellensoziologie, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg, Telefon 0441-9736000, E-Mail stefan.mueller.doohm@uni-oldenburg.de

„Habermas-Special“ – Forschung Frankfurt 2/2009

In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Forschung Frankfurt (2/2009) (online www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de/2009/index.html) finden Sie weitere Beiträge, die verdeutlichen, wie sich Frankfurter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Habermas’ Philosophie
beschäftigen:

• Klaus Günther und Rainer Forst: Über die Dynamik normativer Konflikte – Habermas’
Philosophie im der aktuellen Forschung
• Thomas M. Schmidt: Gibt es eine moderne Religion? Habermas und die Idee der »postsäkularen Gesellschaft« • Anja Karnein: Warum dürfen wir unsere Kinder nicht klonen? Habermas und seine Kritiker in der bioethischen Debatte
• Interview mit Axel Honneth: »Forever Young« – Die Kritische Theorie • Interview mit Cao Weidong: Habermas, China und die »halbierte Moderne«

WEITERE INFORMATIONEN

Prof. Stefan Müller-Doohm, Forschungsstelle Intellektuellensoziologie,
Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg,
Telefon 0441-9736000, E-Mail
stefan.mueller.doohm@uni-oldenburg.de