Apr 10 2009

Frankfurter Historiker analysieren den Briefwechsel eines Hamburger Arztehepaars während des Ersten Weltkriegs

Feldpost: Das fragile Band zwischen Front und Heimat

FRANKFURT. Während des Ersten Weltkriegs sollen allein in Deutschland 28 Milliarden Feldpostbriefe zwischen Front und Heimat gewechselt worden sein. Erhalten und für die historische Forschung zugänglich ist jedoch nur ein Bruchteil dieser riesigen Menge an Ego-Dokumenten, die Aufschluss über Mentalitäten und deren Wandel in Zeiten des Krieges geben können. Einem glücklichen Zufall ist es zu verdanken, dass die Frankfurter Historiker Prof. Marie-Luise Recker und Marcus Riverein gemeinsam mit der Hamburger Historikerin Dr. Heilwig Gudehus-Schomerus 1800 Briefe, die das Hamburger Arztehepaar Anna und Lorenz Treplin von 1914 bis 1918 schrieb, umfassend analysieren konnten. Ihr spannender Beitrag zur bürgerlichen Briefkultur ist jetzt in der neuen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins der Goethe-Universität „Forschung Frankfurt“ zu lesen. Eine kommentierte Veröffentlichung der Briefe, die vor einigen Jahren in einem Nachlass der Familie Treplin gefunden wurden, ist noch in diesem Jahr geplant. „Unser Editionsprojekt begreift sich als Beitrag zur Bürgertumsforschung und soll über diese Sozialformation, ihre Werthaltungen und Wandlungen informieren, die Geschichte der Gesellschaft im Kriege steht im Mittelpunkt“, so Recker, die gemeinsam mit Gudehus-Schomerus das Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft leitet.

Nicht untypisch für Feldpostbriefe geht Lorenz in seinen Briefen ausgesprochen selten darauf ein, welche Erfahrungen und Empfindungen die Konfrontation mit den vielen Verwundeten und Toten bei ihm hinterließ. Plastische Schilderungen waren eine echte Ausnahme, wie in diesem Brief vom 26. Januar 1915: „Es ist einem doch immer noch eigenartig, wenn man sieht wie Menschen so als jagdbares Wild behandelt werden. Wenn man so durch die Schützengräben geht, dann sieht man wie heute morgen wieder einen besonders gut schiessenden Feldwebel an einer Schiesscharte im Anschlag mit einer Zielfeuerrohrbüchse. Es knallte und befriedigt sagt er ‚So der liegt.’ – ‚Das war in den letzten 2 Stunden schon der dritte’. Na hoffentlich hört diese legitimierte Morderei bald auf.“ Meist berichtet er seiner Frau, die in Hamburg ihre drei, später vier kleinen Töchter versorgt, seinen von Routine geprägten Tagesablauf mit leicht ironischem Unterton – er war als Bataillons- und Lazarettarzt zunächst in Belgien und Frankreich dann in Osteuropa eingesetzt. Über das Leid der Zivilbevölkerung, die er medizinisch versorgen sollte, schreibt er seiner Frau Anna nur zu Beginn des Krieges im September 1914: „Die Leute sind zu bedauern und verfluchen den Krieg. Hühner, Kaninchen, Ochsen, Kühe werden geschlachtet, die Pferde aus den Ställen geführt und alle Räume belegt, wo sie bleiben, darum kümmert sich kein Mensch. Man wird zur Bestie im Krieg.“

Die kriegsbedingte Trennung war für Anna eine erzwungene Ausnahmesituation, nicht das „wirkliche Leben“, sie ahnte nicht, dass der Zustand dreieinhalb Jahre andauern sollte und zu einer stetigen Entfremdung der Eheleute führte. Die Familie Treplin lebte verglichen mit vielen anderen im Wohlstand, immerhin hatte Anna mehr als 1200 Mark pro Monat zur Verfügung, konnte sich Hilfspersonal im Haushalt leisten, während das Jahresdurchschnittseinkommen zu jener Zeit bei 872 Mark lag. Anna, Tochter einer wohlhabenden Hamburger Kaufmannsfamilie, zog mit den Kindern in ihre vertraute Heimatstadt und übernahm die Pflichten des Ehemanns: Sie führte die Finanzgeschäfte, machte die Steuererklärung und erledigte die Abrechnungen für die noch fälligen Arzthonorare, organisierte den Umzug und die Handwerkarbeiten – und entwickelte so zunehmend ihre Selbstständigkeit, wie sie in bürgerlichen Haushalten in Friedenszeiten absolut unüblich war. Ihr neues Selbstbewusstsein dokumentiert sie in einem Brief im Mai 1915: „Eigentlich ist es rührend, dass man als weibliches Wesen sein Leben lang als unzurechnungsfähig angesehen wird! Das würde doch durch das Wahlrecht für Frauen alles besser werden. Also würde ich schließlich auch dafür optieren.“

Ihre Briefe wurden zu einer Brücke zwischen unbekannten Welten, die Irritationen nahmen im Laufe der Jahre zu. In den Konventionen der bürgerlichen Korrespondenz war ein offen ausgetragener Streit undenkbar, doch die von Anna nicht gewünschte vierte Schwangerschaft sprengte diesen engen Rahmen: Anna vernichtete Lorenz’ wütenden Brief – übrigens der einzige der 1800 Briefe, der fehlt – und versuchte ihn zu besänftigen: Sie glaube nicht, „zu einem solchen Übermaß an Empörung Veranlassung gegeben zu haben […] den Vorwurf des gefühllosen Scheusals, Rabenmutter, Tränentier – brauche ich schließlich nicht auf mir sitzen zu lassen.“ Als Anna auf Anraten von Lorenz den Sommer mit den vier Töchtern in Hademarschen verbringt, erkrankten die drei älteren Töchter an Ruhr, die älteste stirbt daran im Juli 1917 – was eine neuerliche Zerreißprobe für die Ehe darstellte. Lorenz vermied es, über den Tod der Tochter zu schreiben, sprach nur über unverfängliche Themen. Anna ließ sich – dem bürgerlichen Verhaltenskodex ihrer Zeit entsprechend – wenig anmerken, empfand aber den häuslichen Alltag „so, als ob das eigentliche Leben in einem erstorben wäre“. Erst nach Annas Aufenthalt in einem Sanatorium und der gesunden Rückkehr Lorenz’ aus dem Krieg stabilisierte sich das Familienleben wieder.

Informationen Prof. Marie-Luise Recker und Marcus Riverein, Historisches Seminar, Campus Westend, Tel. (069) 798 32591, recker@em.uni-frankfurt.de, M.Riverein@em.uni-frankfurt.de, Dr. Heilwig Gudehus-Schomerus, HGudehus@aol.com