Apr 22 2009

Prof. Micha Brumlik und Prof. Frank-Olaf Radtke zur wachsenden Zahl von Ratgebern und ihren vereinfachten Sichtweisen – Plädoyer für mehr Gelassenheit

Wenn Erziehung unter permanentem Erwartungs- und Erfolgsdruck steht

FRANKFURT. „Die Grundprobleme von Erziehung sind schon im Struwwelpeter enthalten: Wie funktionieren Verbote? Welchen Sinn haben Sanktionen? Was könnte geschehen, wenn man seinen Aufsichtspflichten als Eltern nicht gerecht wird? Was ist der ganz alltägliche Ärger im Erziehungsgeschäft?“, meint Prof. Micha Brumlik und erinnert sich – übrigens wie auch sein Kollege Prof. Frank-Olaf Radtke –, dass die Begegnung mit dem Struwwelpeter in der eigenen Kindheit keinerlei traumatische Spuren hinterlassen habe. Der 200. Geburtstag von Heinrich Hoffmann war Anlass für ein Interview mit den beiden Frankfurter Erziehungswissenschaftlern in der neuesten Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Forschung Frankfurt 1/2009. Dabei ging es auch um den zunehmenden Druck, dem Eltern heute in der Erziehung ausgesetzt sind: Ob es um die Wahl des Kindergarten geht, der die spätere Bildungskarriere beeinflussen könnte, um den Erwerb einer Fremdsprache schon mit drei Jahren oder um die gut gemeinten, aber fehlleitenden Erziehungsratschläge der Supernanny oder den Ruf nach mehr Autorität, mit dem der konservative Bernd Bueb die liberalen Erziehungswissenschaftler herausgefordert hat.

Dazu Radtke: „Kinder, Eltern und auch Schulen stehen heute vermehrt unter dem Druck, Qualität liefern zu müssen, das heißt: ökonomisch verwertbare Kompetenzen. In dem Maße, in dem sich Qualität, Leistung und Verwertbarkeit als ökonomische Kategorien in den Vordergrund schieben, wird der Druck zunehmen, den Strauß der zulässigen Mittel im Namen der Effektivität und Effizienz zu erweitern. Wo lässt sich beispielsweise noch mehr Zeit einsparen und doch den gesetzten Qualitätsansprüchen genügen? Eltern kennen solche Debatten, wenn es um die Verkürzung der Gymnasialzeit geht.“ Radtke plädiert dafür, sich mehr Zeit zu nehmen, sich geduldiger auf Lernumwege der Kinder, aber auch auf Verhandlungen, Kontroversen und Diskussionen einzulassen. Er fügt hinzu: „Bei Erziehung geht es um eine so altmodische Tugend wie Gelassenheit, das ist das Gegenteil von Unsicherheit. Aber die Zeit ist nicht danach, Gelassenheit zu vermitteln, weil Erziehung unter permanenten Erwartungs- und Erfolgsdruck gestellt wird.“

An der Verunsicherung sind die Erziehungswissenschaften nicht unschuldig, denn der Grad der Unsicherheit wächst um so stärker, je mehr die Forscher darüber wissen, wie widersprüchlich komplexe Erziehungsprozesse seien können. „Andererseits erhöht das die Bereitschaft, Lösungserwartungen an bestimmte einfache Rezepte zu stellen. Dieses Bedürfnis bedienen viele der Ratgeber-Bücher“, so Radtke, der im Gegensatz zu Brumlik vehement die Position vertritt, dass wissenschaftliches Wissen nicht Handlungs- und Entscheidungswissen bereitstellt, sondern Prozesse beobachtet und erklärt. Brumlik entgegnet: „Mein Selbstverständnis ist nicht das eines beobachtenden Erziehungswissenschaftlers. Wir wissen inzwischen so viel, dass wir zwar keine Rezepte empfehlen können, aber zumindest begründet sagen können, was mit Sicherheit zu unterlassen ist.“ So plant Brumlik ein neuartiges Erziehungsbuch, das zu Beginn des kommenden Jahres erscheinen soll: „Wir haben über 50 Autorinnen und Autoren eingeladen, alles pädagogische Fachleute in ihrem Metier, die von Schlafstörungen über Selbstverletzungen bis zu Schulschwierigkeiten und Jugenddelinquenz in populärer Sprache wiedergeben, was die Wissenschaft dazu sagen kann.“ Die wissenschaftliche Aufklärung habe viele Eltern verunsichert – darüber hinaus sei die liberale Erziehung ein sehr schwieriges Geschäft. Und Radtke ergänzt: „Wir als Erziehungswissenschaftler haben die gesellschaftspolitische Aufgabe, darauf hinzuweisen, dass die Politik von der öffentlichen Erziehung nicht erwarten kann, dass sie ihre Probleme löst – und sei es Gerechtigkeit, Ungleichheit oder Integration. Diesen Aufgaben muss sich die Regierungskunst stellen, nicht die Erziehungskunst. Die Erwartungen an die Erziehung sind hoch, so als habe sie einen Schlüssel zur Machbarkeit, also eine kausal wirksame Technologie, mit der all das zuverlässig umzusetzen sei, was sich politisch nicht lösen lässt.“

Aber was bleibt den Pädagogen, wenn sie nicht unmittelbar kausal einwirken können? Wie können sie mit dem Dilemma zwischen Freiheit und Zwang umgehen? Darauf antwortet Radtke: „Eltern wie professionelle Erzieher müssen lernen, reflexiv mit diesem Dilemma umzugehen: es nicht verleugnen, sondern von Fall zu Fall in Reaktion und mit Bezug auf die beteiligten Personen und die jeweiligen Umstände angemessen handeln. Es gibt dazu verschiedene Möglichkeiten, die im Laufe der pädagogischen Tradition auch immer wieder neu entworfen worden sind. Eine davon heißt ‚temporalisieren’, also ‚verzeitlichen’, was bedeutet, Kompromisse zu suchen, etwa zu einem Zeitpunkt etwas mehr Zwang einzusetzen und zu einem anderen etwas mehr Freiheit zu gewähren.“

Informationen Prof. Micha Brumlik, Prof. Frank-Olaf Radtke, Fachbereich Erziehungswissenschaften, Campus Bockenheim, Telefon (069) 798 – 22834 /- 23715, M.Brumlik@em.uni-frankfurt.de, f.o.radtke@em.uni-frankfurt.de