Apr 22 2009

Vortragsreihe des Instituts für Jugendbuchforschung im Rahmen der Deutsche Bank Stiftungsgastprofessur „Wissenschaft und Gesellschaft“

Heinrich Hoffmann und der Struwwelpeter

FRANKFURT. Ein deutsches Bilderbuch des 19. Jahrhunderts hat weltweiten Ruhm erlangt und bewegt auch heute noch die Gemüter: »Der Struwwelpeter«. Verfasst wurden diese Geschichten von dem Frankfurter Arzt, Psychiatriereformer und Gelegenheitsliteraten Heinrich Hoffmann. Dessen 200. Geburtstag gibt der Stadt Frankfurt wie auch der Goethe-Universität Gelegenheit, sich erneut mit dieser vielseitigen Persönlichkeit der Stadt-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte auseinanderzusetzen. Die Deutsche Bank Stiftungsgastprofessur „Wissenschaft und Gesellschaft“ widmet sich im Sommersemester 2009 Werk und Wirken des berühmten Frankfurter Arztes. Unter dem Titel „Heinrich Hoffmann und der Struwwelpeter im literatur-, kultur- und medizinhistorischen Kontext“ referieren renommierte Erziehungs- und Kulturwissenschaftler, Psychoanalytiker, Medizinhistoriker, Kinderbuch- und Illustrationsforscher aus dem In- und Ausland. Organisator der interdisziplinären Vortragsreihe ist das Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität unter der Leitung von Prof. Hans-Heino Ewers.

Einen Schwerpunkt bilden die Geschichten und Zeichnungen des Struwwelpeters und deren nicht enden wollende Wirkungs- und Interpretationsgeschichte. Die »Lustigen Geschichten und drolligen Bilder für Kinder von 3 bis 6 Jahren« – so der ursprüngliche Titel des Bilderbuch-Klassikers – sind zu einem populären Mythos geworden, dessen Verse auch denen geläufig sind, die den Struwwelpeter als Kind nicht gelesen haben. Der Streit unter Erwachsenen über dieses teils als empörend, teils als faszinierend empfundene, vieldeutige Werk ist bis heute nicht abgeebbt. Daneben aber soll auch der Arzt und Kinderpsychiater ins Blickfeld geraten, findet doch die Vortragsreihe auf dem Campus Westend statt, dort, wo Hoffmann einst sein größtes Lebenswerk, seine psychiatrische Klinik »Affenstein«, errichten ließ.

Die Vorträge richten sich insbesondere an die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Frankfurt und des Umlands sowie an Studierende und Lehrende der Universität. Die Vorträge finden jeweils mittwochs um 19 Uhr im Casino des Campus Westend statt. Der Besuch ist kostenlos. Die Veranstaltungsreihe ist Teil des Hoffmann-Sommers, mit dem der 200. Geburtstag des berühmten Frankfurter Bürgers am 13. Juni in seiner Heimatstadt gefeiert wird. Darüber hinaus kuratiert das Instituts für Jugendbuchforschung drei von insgesamt sieben Ausstellungen im Hoffmann-Sommer: »Parodien und Struwwelpetriaden« (8. Mai bis 30. Juli 2009 in der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg); „Struwwelpeters Geschwister – Kinderbuchillustrationen im Biedermeier“ (13. Mai bis 5. Juli 2009, Frankfurter Bürgerstiftung im Holzhausenschlösschen), „Struwwelpeters Nachfahren – starke Kinder im Bilderbuch der Gegenwart“ (17. Juli bis 26. September 2009, Deutsche Nationalbibliothek).

Zum Auftakt der Vortragsreihe spricht die Direktorin des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts, Prof. Marianne Leuzinger-Bohleber, am 29. April über „Struwwelpeter: Eine Fundgrube unbewusster Wünsche und Ängste von Kindern“. Die Psychoanalytikerin wird erklären, warum der Struwwelpeter seit nun 200 Jahren sowohl Eltern, deren Kindheit sich zu Beginn des industriellen Zeitalters und während der Zeit des Nationalsozialismus abspielte, als auch Kinder der heutigen postmodernen Zeiten faszinieren und fesseln kann. Aus psychoanalytischer Sicht mag ein Grund dafür sein, dass die Struwwelpeter-Geschichten allgemeine unbewusste Fantasien der Kinder ansprechen, die einerseits eine stark biologische Wurzel haben und andererseits immer von den spezifischen sozialen Erfahrungen des Einzelnen geprägt sind. Prof. Jürgen Oelkers, Universität Zürich, beschäftigt sich am 6. Mai mit „Struwwelpeter und die Pädagogik“. Der Erziehungswissenschaftler geht auf die Bildgeschichte des „aktiven Kindes" im 19. Jahrhundert ein und fragt nach den störenden Alternativen. Die Entdeckung des Kindes gilt als Markenzeichen der Reformpädagogik. Das Kind soll aktiv sein und nicht länger passiv bleiben wie in der Lern- und Buchschule. Was aber genau aktiv meint, blieb offen. Von einem moralisch einwandfreien Kind ist die Rede, das sich auf die „neue Erziehung“ freut, die in seinem Namen unternommen wird.

Woran liegt es, dass der Struwwelpeter in Frankreich keinen Anklang gefunden hat? Dr. Nelly Feuerhahn, Centre National de la Recherche Scientifique (Paris), geht dieser Frage am historisch gewachsenen kulturellen Spannungsverhältnis zwischen Franzosen und Deutschen nach. Sie zeigt in ihrem Vortag „Die unmögliche Rezeption der Komik des Struwwelpeters in Frankreich“ am 13. Mai, wie sich in Frankreich die Kultur des „enfant terrible“ entwickelt hat und welche großen Unterschiede es zu den Figuren Hoffmanns gibt. Noch heute halten übrigens französische Psychotherapeuten den Struwwelpeter für gefährlich und lehnen ihn als Lesebuch für Kinder ab. „Der Struwwelpeter und die (Kinder)Buch-Illustration des Biedermeier“ ist das Thema des Illustrationsforschers Dr. h. c. Hans Ries, Gilching/München. Er wird am 20. Mai den neuen, wegweisenden Typus des Bilderbuchs, den Heinrich Hoffmann in erklärtem Gegensatz zum zeitgenössischen Kinderbuch-Angebot entwickelte, vorstellen. Hoffmann setzte sich von der Vorbildlichkeit der biedermeierlichen Beispielgeschichten ab und rückte die Zuwiderhandlung seiner negativen Helden in den Mittelpunkt.

Prof Volker Roelcke, Facharzt für Psychiatrie und Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Gießen, setzt sich am 27. Mai mit Heinrich Hoffmann und der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts auseinander. Zu dieser Zeit war die Psychiatrie durch zwei Entwicklungen charakterisiert: Einerseits wurden immer mehr Menschen in Anstalten psychiatrisch versorgt, andererseits veränderte sich die Psychiatrie in ihrer Identität von einer gesellschaftlichen Ordnungsinstanz mit philanthropischem Heiloptimismus hin zu einer wissenschaftlichen Disziplin mit eigenen universitären Lehrstühlen, woran Hoffman maßgeblich beteiligt war. „‘Böse Kinder‘ als Faszinosum“ hat der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Reinhard Fatke, Universität Zürich, seinen Vortrag am 3. Juni betitelt. Was fasziniert uns Erwachsene, Laien wie Professionelle, so sehr an „bösen Kindern“, dass sie uns mehr beschäftigen als die „lieben Kinder“? Und wovon sind diese „bösen Kinder“ ihrerseits fasziniert? Fatke wird sich auch damit beschäftigen, warum es für Kinder wichtig und förderlich ist, „böse“ zu sein.

Die Vorlesungsreihe endet am 10. Juni mit dem Vortrag des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Prof. Jack Zipes (University of Minnesota) zu „Das Schicksal des Kinderbuches in einer globalisierten Welt“. Da Kinder wenig lesen, fürchten Wissenschaftler, dass das Medium Buch langsam verschwindet und seine kulturelle Bedeutung verliert. Am Beispiel amerikanischer Verhältnisse untersucht Zipes, wie und warum Kinder heute kaum noch Bücher lesen und wie sie – beeinflusst von Bildern – neue Lesetechniken entwickeln. Diese Techniken bilden die Voraussetzung dafür, Kindern die Funktion von Konsumenten innerhalb der Kulturindustrie Amerikas zuweisen zu können.

Informationen Prof. Hans-Heino Ewers, Sibylle Nagel (M.A.), Institut für Jugendbuchforschung, Sib.Nagel@em.uni-frankfurt.de, www.uni-frankfurt.de/fb/fb10/jubufo, zur Vorlesungsreihe: www.goethe-universitaet.de/Buergeruni, zum Frankfurter Hoffmann-Jahr: www.hoffmann-sommer.de